Marcos wurde am 26. September 1986 in Mexiko geboren. Das ist aber auch schon alles, was er über seine Geburt weiß. Niemand interessierte sich für die Uhrzeit oder das scheiß Wetter an diesem Tag. Seine Mutter, wenn man sie so nennen wollte, presste ihn auf dem heimischen Klo aus sich heraus, nur um ihn wenige Stunden später zu einem Heim für ungewollte Gören zu karren. Schenkte er den Frauen, die ihn ab diesem Moment aufzogen, auch nur das kleinste Fünkchen Glauben, war das am Ende die beste Entscheidung, die sie für ihn hätte treffen können. Sie war abhängig, riss sich während der Schwangerschaft zwar so gut wie möglich zusammen, bekam sonst aber nichts gebacken, und wer wusste schon, was sie sich in einsamen Nächten so reingepfiffen hatte?
Das Haus, in dem seinerzeit etwa vierzig Kinder einander Tag und Nacht auf den Sack gingen, denselben Fraß hinunterwürgten und die Betten vollpissten, weil sie nachts von ihren Panikattacken heimgesucht wurden, wurde für Marcos nie mehr, obwohl er nichts anderes kannte. Es blieb ein seelenloser Kasten; eine übergroße Abstellkammer für die bedauernswerten Rotznasen, die in einer Besenkammer, einer Autorückbank oder einem Park gezeugt wurden, ohne dass ihre Erzeuger auch nur einen Gedanken daran verschwendeten, ihr Liebesspielchen könnte Folgen haben. Für Marcos und all die anderen verlorenen Seelen jedenfalls fielen diese äußerst schwerwiegend aus.
Je älter er wurde, desto mehr begriff der Junge, der weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen war, dass in dieser Welt das Gesetz des Stärkeren zählte. Mit vier Jahren steckten ihn seine älteren „Brüder“, wie die Heimleitung diese Penner bezeichnete, zum ersten Mal in die Kloschüssel – nachdem sie sich in ihr erleichtert hatten.
Nach einer Stunde, in der sich Marcos die Gedärme aus dem Leib reiherte, fasste er den Entschluss, eines Tages der Stärkere zu sein, derjenige, der am längeren Hebel saß. Oder am Abzug.
Auch die folgenden Jahre konnte man nicht als Kindheit bezeichnen. Marcos Alltag bestand aus Schule, Essen, Schlafen und Raufen. Letzteres entwickelte sich ziemlich schnell in waschechte Schlägereien, aus denen er schon bald immer häufiger als Sieger hervorging.
Mit jedem Monat, der verstrich, konnte Marcos dabei zusehen, wie er sich seinen Peinigern mehr und mehr annäherte. Jedes Mal, wenn er zu hören bekam, er sei schon wieder „außerordentlich gewachsen“, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nicht, weil er es darauf anlegte, erwachsen zu werden – obwohl die Aussicht, dann diese Drecksloch verlassen zu können, ein weiterer Pluspunkt war – sondern weil er es nicht erwarten konnte, seinen Peinigern endlich die Fresse zu polieren.
Sein Tag sollte kommen. Als er achtzehn wurde, machte er sich selbst sein größtes Geschenk, indem er mit jenen abrechnete, die es ihm so viele Jahre lang schwergemacht hatten. Außerhalb der erdrückenden Mauern des Heims suchte er sie an den Orten auf, die sie zu ihren Lieblingsplätzen auserkoren hatten, nachdem man sie in die Freiheit entlassen hatte. Bars, Casinos, sogar den einen oder anderen Puff steuerte Marcos an, um sich seine Würde zurückzuholen.
Am Ende seines erfolgreichen Rachefeldzugs verschlug es ihn schließlich selbst an den Tresen. Sein Sieg musste gefeiert werden! Während er trank, setzte plötzlich ein Kerl neben ihn, der ihn zunächst nur eine Weile beobachtete. Er musste das Blut, das aus zahlreichen Schnittverletzungen an Marcos Armen hervortrat, bemerkt haben wie die meisten anderen auch. Der einzige Unterschied war, dass er sie nicht ignorierte.
»Harte Nacht?«, fragte der Typ.
»Was geht’s dich an?«, lautete die Antwort.
Hätte man Marcos erzählt, dass diese Worte der Beginn einer langen, engen Freundschaft sein würden, wäre an diesem Abend garantiert eine weitere Person in den Genuss einer Massage durch seine Fäuste gekommen.
Wie sich herausstellte, gehörte Marcus neuer Kumpel (immerhin gab er ihm ein, zwei Biere aus und ließ ihn bei sich pennen) einer Gruppierung an. Lange rückte er nicht damit raus, was es damit auf sich hatte, doch das hinderte ihn nicht daran, Marcos Botengänge für sich erledigen zu lassen. Ein Päckchen hier, eine Botschaft da. Jedes Mal kassierte Marcos dafür eine nicht gerade geringe Summe. Das Spielchen lief mehrere Monate lang so, bis er genug Kohle zusammen hatte, um sich eine eigene Bude leisten konnte. Seiner Arbeit aber blieb er treu.
Nach etwa einem Jahr beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hasste es, im Dunkeln gelassen zu werden. Das Einzige, was ihn bisher daran hinderte, sein eigenes Ding durchzuziehen, waren die Scheine, die ihn regelmäßig dafür entlohnten, dass er keine Fragen stellte. Doch fragen wollte er auch nichts. Stattdessen heftete er sich an die Fersen seines Kumpels, der sich ihm nur als Cuervo vorstellte. Seinen richtigen Namen sollte Marcos erst später erfahren.
Er verfolgte Cuervo bis in eine Gasse, in der er vom Erdboden verschluckt worden zu sein schien. Während Marcos nach ihm suchte, bemerkte er nicht, dass sich aus den Schatten hinter ihm mehrere Gestalten lösten. Erst als auch vor ihm fremde Männer auftauchten, wurde ihm bewusst, dass er seine Deckung vernachlässigt und seiner Neugier zu viel Raum gelassen hatte. Ein hochgewachsener Typ trat auf ihn zu, dessen Erscheinung selbst Marcos Respekt einflößte.
Er erklärte ihm, dass es von nun an für ihn kein Zurück mehr gab. Ohne Vorwarnung schossen gleich zwei Angreifer auf Marcos zu, traten und schlugen nach ihm, konnten das Überraschungsmoment jedoch nicht für sich nutzen. Beide lagen wenig später am Boden, und Marcos ahnte, worauf das alles hinauslief. Entweder er kämpfte, oder diese Gasse wäre das Letzte, was er sah. Wieder und wieder bekam er es mit einem neuen Widersacher zu tun, bis er schließlich einer Faust auswich, die ihm nur zu gut bekannt vorkam. Der letzte Kämpfer, der noch übrig geblieben war, grinste ihm entgegen, wie er es so oft tat, wenn er zu Späßen aufgelegt war. Cuervo. Wie ein Wahnsinniger schlug er auf Marcos ein, der ihm in einem unachtsamen Moment nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte und einen herben Schlag in den Magen einsteckte. Das musste es gewesen sein. Er hatte verloren, kauerte inmitten des Gestanks aus Müll, Kotze und anderen Appetitlichkeiten, nicht wissend, ob er selbst für den einen oder anderen Geruch verantwortlich war.
Dann aber tauchte eine Hand vor ihm auf, die ihn erbarmungslos wieder auf die Füße zog. Entgegen seiner Annahmen hatte er die Feuertaufe bestanden. Man hatte ihn als würdig genug empfunden, um Teil einer Söldnergruppe zu werden, die Mexiko noch viele Jahre lang in Atem halten würde.
Sah es an seinem ersten Abend noch aus, als hätte Marcos es vergeigt, machte er sich in den folgenden Wochen und Monaten ziemlich gut als frisch gebackener Söldner. Auch wenn er das, wie man sich denken kann, nicht über Nacht wurde. Cuervo nahm ihn unter seine Fittiche, sorgte dafür, dass er lernte, sich mit und ohne Waffe zu verteidigen und boxte den jungen Hitzkopf raus, wann immer es nötig wurde. Auch wenn Marcos dank seiner großen Klappe oft genug die Faust eines älteren Kollegen zu spüren bekam, wurde er Teil der rauen Gemeinschaft. Zum ersten Mal fühlte er sich irgendwo angekommen.
Im Laufe der Zeit arbeitete er sich steil nach oben, krallte sich immer größere und wichtigere Jobs, bis schließlich er derjenige war, der Kurierdienste in Anspruch nahm. Selbst mit dem Rey, dem Anführer des Trupps, kam er immer besser zurecht, zur Freude von Cuervo, der mit dem Obersten vor einigen Jahren „Blutsbruderschaft“ begangen hatte, wie er sich jedes Mal, wenn er davon erzählte, voller stolz ausdrückte. Umso überraschender – oder auch nicht – kam dessen Entscheidung, als rechte Hand des Rey abzutreten. Seine einzige Bedingung lautete, dass Marcos fortan derjenige sein sollte, der seinen Platz einnahm. Der Wechsel erfolgte ohne Probleme, ohne Murren und ohne Messerstecherei, was nicht selbstverständlich war. Wie es aussah, hatte Marcos, der inzwischen von allen Coco genannt wurde, seinen Platz im Leben gefunden.
Doch nichts bleibt, wie es ist, und so tauchte nach einer Weile ein neues Gesicht in der Truppe auf. Unfreiwillig. Zac war ein pfiffiges Kerlchen, soweit Marcos es beurteilen konnte. Sein Verstand war ebenso scharf wie seine Zunge, sodass seine Anfangszeit bei den Söldnern sich nicht sonderlich von Marcos eigener unterschied; abgesehen vielleicht von einer Kleinigkeit. Zac kam als Gefangener zu ihnen. Dass er grob angepackt wurde, schien ihn aber nicht sonderlich zu interessieren. Vielleicht konnte Marcos diesen Irren auch deshalb so gut leiden.
Da er selbst hart gearbeitet hatte, um seine Position innerhalb der Gruppe zu festigen, erkannte Marcos schnell, dass auch Zac nach Höherem strebte. Was auch immer man mit ihm anstellte, er hatte nicht vor, einfach aufzugeben. Es wäre eine ziemliche Verschwendung gewesen, ihn einfach dem Kumpel in Schwarz zu überlassen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu behaupten. Am Ende war es sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er dem Rey ein Dorn im Auge war, und Marcos traute es Zac zu, dass er genau darauf gepokert hatte.
Noch bevor der wilde Tanz zwischen den beiden begann, wusste Marcos, wie er ausgehen würde. Wahrscheinlich wusste es das gesamte Lager. Zac mochte nach Folter und Gefangenschaft nicht in bester Form sein. Der Rey aber war lange nicht mehr der Jüngste. Hinzu kam, dass er in den vergangenen Jahren an Härte verlor, was Zac nur noch höhere Chancen auf einen Sieg bescherte. Am Ende kam, was kommen musste. Der Rey forderte Zac zum Kampf heraus – schluckte binnen weniger Faustschläge Sand und Blut.
Seit diesem Tag gibt Marcos sein Bestes, um Zac an der Spitze der Söldnergruppe zu unterstützen, zumal ihm nicht jeder seiner Unterstellten wohlgesonnen ist. Marcos aber konnte ihn gut leiden, auch wenn der Kerl nie wusste, wann es besser war, die Fresse zu halten. Langweilig wurde es mit ihm jedenfalls nie, und – hey! - ein bisschen Spaß musste auch sein.
Für Außenstehende muss der Söldnertrupp einem zusammengewürfelten Haufen eiskalter Killer gleichkommen, was auch der Realität entspricht. Für Marcos aber bedeutet sie Familie, und wer auch immer versuchen sollte, sich seinen Jungs und ihm in den Weg zu stellen, wird es bitter … bitter bereuen.